Yezidische Gemeinde Osterholz e.V. Mala Êzîdiyan Osterholz
Yezidische Gemeinde Osterholz e.V.Mala Êzîdiyan Osterholz

Das Yezidentum

Die Yeziden in Deutschland – Religion und Leben

 

 

Durch gemeinsame Kenntnis voneinander verliert das Fremde sein Gesicht.(Marie Curie)

 

 

Verbreitung, Anzahl und Gesellschaftsstruktur

 

Die Yeziden sind von der Volkszugehörigkeit Kurden. Sie sprechen das nordkurdische Kurmanji als Muttersprache. Ihre Siedlungsgebiete befinden sich innerhalb der Verbreitungsgebiete der Kurden, die fast nie in ihrer Geschichte einen eigenen Staat hatten und sich heute auf die Länder Irak, Syrien, Türkei und Iran verteilen. Weiterhin leben Yeziden auch noch in den ehemaligen Sowjetstaaten Armenien und Georgien. Fast alle türkischen und die Mehrheit der syrischen Yeziden, aber auch zahlreiche aus dem Irak, leben in Westeuropa, überwiegend in Deutschland, wenige in Belgien, Dänemark, der Schweiz und Österreich. Die Zahl der in Deutschland lebenden Yeziden wird auf 45.000 bis 60.000 geschätzt. Sie leben vorwiegend in den Bundesländern Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, wo sie häufig größere Gemeinden bilden.

 

Es gibt bis jetzt keine offizielle Zählung der Yeziden, weder in Deutschland noch weltweit. Schätzungen sprechen von insgesamt 800.000 Menschen. Ehemals Ursprungsreligion der Kurden, stellen die Yeziden eine religiöse Minderheit unter den mehrheitlich muslimischen Kurden dar. Aufgrund ihrer Ursprünglichkeit werden die Yeziden als das lebende Gedächtnis und Gewissen der Kurden betrachtet. So halten die Yeziden ihre Gebete in kurdischer Sprache ab, während die moslemischen Kurden sich der arabischen Sprache bedienen müssen, um die Koranverse lesen zu können.

 

Das Hauptsiedlungsgebiet der Yeziden ist der Nordirak. Hier leben ca. 600.000 yezidische Glaubensbrüder, und hier befindet sich nicht allzuweit von Mossul entfernt Lalish, das religiöse Zentrum der Yeziden. Nahe bei Lalish residiert in Ba’adre das weltliche Oberhaupt der Yeziden, der Mir, auch nach dem Distrikt Sheikhan Mire Sheikhan genannt. Das religiöse Oberhaupt, der Baba Sheikh, lebt in Ain Sifni.

Lalish, Pilgerstätte und zentrales Heiligtum der Yeziden

Als Yezide wird man geboren; es gibt keine Möglichkeit, zum Yezidentum zu konvertieren. Dies schließt aus, dass Yeziden missionarisch tätig werden und Angehörige anderer Religionen bekehren. Es gibt keinen religiösen Fanatismus, der von der Überlegenheit der Religion über andere Glaubensvorstellungen ausgeht. Der yezidischen Religion fehlt somit die aggressive Komponente des Bekehrens mit Feuer und Schwert.

 

Im Yezidentum gilt das Gebot der Eheschließung innerhalb der eigenen Religionsgemeinde. Bei dieser endogamen Heiratsregel handelt es sich um einen historisch entstandenen Prozess, der in der Verfolgungssituation den Zusammenhalt und die Solidarität der Yeziden stärkte. Er ist in der Gemeinschaft fest verankert, in Europa allerdings anderen gesellschaftlichen Bedingungen ausgesetzt.

 

Spätestens seit dem 12. Jahrhundert gibt es innerhalb der yezidischen Gemeinschaft mehrere Kasten, die auf den heiligen Sheikh Adi, zurückgehen. Die yezidische Gesellschaft gliedert sich in die Kaste der Laien, der Muriden und in zwei Kasten von Geistlichen, in die der Sheikhs und die der Pire. Die Zugehörigkeit zu einer Kaste ist erblich; heiraten außerhalb der eigenen Kaste ist tabu. Die Geistlichen haben die Aufgabe, die Laien religiös zu unterweisen und zu betreuen. Darüber hinaus nehmen sie wichtige soziale Funktionen wahr. Im Gegensatz zum Kastenwesen im Hinduismus trennt das Kastensystem bei den Yeziden nicht die Gesellschaft, sondern es schuf ein komplexes System, das durch die Abhängigkeit der einzelnen Glieder voneinander einen engen Zusammenhalt aller Schichten garantierte. Nur durch die Kontakte zwischen den einzelnen Kasten ist es den Yeziden möglich, ihre Religion zu bewahren.

 

Religiöse Aspekte

 

Das Yezidentum kennt keine verbindliche religiöse Schrift, wie es vergleichbar die Bibel für die Christen ist. Die Vermittlung religiöser Traditionen und Glaubensvorstellungen beruhte – bisher –  ausschließlich auf mündlicher Überlieferung. In der Literatur über die Yeziden werden zwei Bücher erwähnt, das „Buch der Offenbarung“ (Kiteba Celwe) und die „Schwarze Schrift“ (Meshefe Resh). Von beiden Büchern sind lediglich Auszüge bekannt geworden, wobei man davon ausgehen kann, dass diese nicht in allen Teilen authentisch die Glaubensvorstellungen der Yeziden wiedergeben.

 

Die yezidische Religion ist eine monotheistische Religion, deren Wurzeln 2000 Jahre weit vor dem Christentum liegen. Die yezidische Religion kennt - anders als der Islam und das Christentum - nicht die Vorstellung eines Widersachers gegenüber dem göttlichen Willen. Die Vorstellung der Existenz einer bösen Kraft ist bei den Yeziden nicht vorhanden. Vielmehr ist Gott einzig, allmächtig und allwissend. Nach yezidischen Vorstellungen wäre Gott schwach, wenn er noch eine zweite Kraft neben sich existieren lassen würde, die ohne sein Dazutun etwas verrichten kann. Die Aussprache des Wortes des Bösen ist gleichbedeutend mit der Akzeptanz der Existenz dieser bösen Kraft und stellt aus yezidischer Sicht eine Gotteslästerung dar. Der Begriff wird von Yeziden daher nicht ausgesprochen, er fehlt auch in dieser Darstellung.

 

Es ist folgerichtig, daß die Yeziden keine Paradies-Höllen-Theorie haben. Vielmehr glauben sie an Seelenwanderung und Wiedergeburt. Die Yeziden glauben, dass das Leben nicht mit dem Tod endet, sondern dass es nach einer Seelenwanderung einen neuen Zustand erreicht. Der neue Zustand ist abhängig von den Taten im vorherigen Leben. In diesem Zusammenhang spielen der Jenseitsbruder (Biraye akhrete) für einen Mann bzw. die Jenseitsschwester (Khushka akhrete) für eine Frau eine wichtige Rolle für einen Yeziden/ eine Yezidin. Unter den Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft sucht man sich zu Lebzeiten einen Bruder bzw. eine Schwester für das Jenseits aus. Diese Wahlgeschwister übernehmen im Jenseits gegenseitig die moralische Mitverantwortung für ihre Taten, und in der Totenzeremonie „begleiten“ sie den Verstorbenen auf dem Weg zur neuen Bestimmung. Nach den yezidischen Vorstellungen bestand die Verbindung der Jenseitsgeschwister bereits im vorherigen Leben und wird im künftigen Leben weiterbestehen.

 

Der Mensch ist in erster Linie selbst verantwortlich für sein Wirken. Aus yezidischer Sicht hat Gott dem Menschen die Möglichkeit gegeben, zu sehen, zu hören und zu denken. Er hat ihm den Verstand gegeben und damit die Möglichkeit, für sich den richtigen Weg zu gehen.

Eine zentrale Bedeutung in den yezidischen Glaubensvorstellungen hat Tausi-Melek, der durch einen Pfau symbolisiert wird. Nach der Schöpfungsgeschichte hat Gott Tausi-Melek mit sechs weiteren Engeln aus seinem Licht erschaffen. Aufgrund der Weigerung, Adam anzubeten, steht er für die Anerkennung der Allmacht Gottes. Er wurde von Gott zum obersten der sieben Engel erkoren und steht somit im Mittelpunkt des Yezidischen Glaubens. Nach der Schöpfungsgeschichte der Yeziden ist Tausi-Melek an der gesamten Schöpfung, an dem göttlichen Plan aktiv beteiligt. So symbolisiert Tausi-Melek in der yezidischen Theologie nicht das Böse und ist auch kein in Ungnade gefallener Engel, sondern der Beweis für die Einzigartigkeit Gottes.

 

Hier liegt auch der Ansatzpunkt für die Kritik der anderen Religionsgemeinschaften, die davon ausgehen, dass es sich stets und ständig um den gleichen, gefallenen Engel handelt. Nicht nur der dem Engel zugeschriebene mythologische Werdegang, sondern auch das darauf basierende Dogma und die vorherrschende Weltanschauung der Yeziden sind jedoch grundlegend verschieden.

Tausi-Melek, von den Yeziden verehrter Erzengel Gottes

Eine zweite wichtige Gestalt für die Yeziden ist Sheikh Adi aus dem 11./12. Jahrhundert. Er ist für die Yeziden eine Inkarnation des Tausi-Melek, der kam, um das Yezidentum in einer schwierigen Zeit neu zu beleben. An seinem Schrein in Lalish findet jedes Jahr vom 6. bis zum 13. Oktober das Fest der Versammlung (Cejna Cumaye) statt. Yeziden aller Gemeinden aus den Siedlungs- und Lebensgebieten kommen zu diesem Fest zusammen, um ihre Gemeinschaft und ihre Verbundenheit zu bekräftigen. Leider erschweren oder verhindern politische Umstände häufig die Pilgerfahrt nach Lalish, die eine Pflicht für jeden Yeziden ist. Aus Lalish bringen die Yeziden geweihte Erde mit, die mit dem heiligen Wasser der Quelle Zemzem zu festen Kügelchen geformt wurde. Sie gelten als „heilige Steine“ (Berat) und spielen bei vielen religiösen Zeremonien eine wichtige Rolle.

 

Im Yezidentum herrscht die Auffassung, dass ein Yezide ein guter Mensch sein kann, aber um ein guter Mensch zu sein, muss man nicht Yezide sein. Das heißt: das Yezidentum ist von vornherein tolerant gegenüber anderen Religionen. In einem Gebet der Yeziden heißt es: „Gott, schütze erst die 72 Völker und dann uns.“ Die Yeziden haben keine Berührungsängste mit anderen Religionsgemeinschaften. So ist z. B. das Verhältnis zwischen Yeziden und Christen sehr gut. Dies hat etwas mit der gemeinsamen Leidensgeschichte der Yeziden und Christen in den kurdischen Gebieten zu tun. So haben z. B. die Yeziden während der Zeit der Armenierverfolgung (1914 – 1917) im Osmanischen Reich viele Armenier bei sich aufgenommen und vor Deportation und Vernichtung gerettet.

Treffen yezidischer Stammesführer mit christlich-chaldäischen Klerikern (19. Jh.)

Asyl und Integration

 

In ihren Heimatgebieten im Vorderen Orient waren und sind die Yeziden einer doppelten Verfolgung ausgesetzt: Einmal ethnisch, weil sie Kurden sind, und zum anderen religiös, weil sie in den Augen fanatischer Muslime als „Ungläubige“, „vom wahren Glauben Abgefallene“ gelten, die es entweder zu bekehren oder umzubringen gilt. Denn nach den Vorstellungen radikaler Muslime öffnet sich für denjenigen, der einen Ungläubigen tötet, der Weg ins Paradies. Fanatische Muslime, die yezidische Dörfer verwüsten oder die Einwohner vertreiben, Menschen ermorden oder Frauen entführen, werden von den Behörden nicht zur Verantwortung gezogen, sei es, weil es in ein politisches Konzept passt oder sei es, weil die Vertreter des Staats ebenfalls Muslime sind, welche die Ansichten – wenn auch nicht die Taten – der Radikalen teilen. In ihren Heimatgebieten können Yeziden oft nur öffentlich in Erscheinung treten, wenn sie ihre Identität verleugnen. Der mangelnde staatliche Schutz führte dazu, dass besonders in den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts viele Yeziden, insbesondere Yeziden aus der Türkei, nach Deutschland flüchteten.

Prof. Wießner von der Universität Göttingen hatte sich als Wissenschaftler der Religionen des Vorderen Orients und damit auch der Religion der Yeziden besonders angenommen. Durch seine Reisen in die Region kannte er die Situation der Menschen in diesen Ländern. Mit einem Gutachten beim Verwaltungsgericht Stade erreichte er 1982 erstmals die Anerkennung von Yeziden als Flüchtlinge. Danach dauerte es noch elf Jahre, bis sich diese Rechtsprechung allgemein durchsetzte. Als letztes deutsches Gericht erkannte Anfang 1993 das Oberverwaltungsgericht Lüneburg den Yeziden den Status als Gruppenverfolgte zu. Auf politischer Ebene bereitete 1989 Herbert Schnoor in seiner Amtszeit als Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen den Weg für ein Bleiberecht der Yeziden vor. Auch die Gesellschaft für bedrohte Völker, dessen Beiratsmitglied Prof. Wießner war, hat sich als Menschenrechtsorganisation für die Yeziden eingesetzt.

 

Als die heutige Elterngeneration der Yeziden nach Deutschland kam, musste sie sich mit völlig neuen Bedingungen zurechtfinden. Die meisten Yeziden hatten in ihren Heimatgebieten von der Landwirtschaft gelebt. Das Bildungsniveau war sehr niedrig. Wenn es in den Dörfern überhaupt Schulen gab, wurde ausschließlich in der Fremdsprache Türkisch unterrichtet. Viele haben erst in Deutschland ihre Erfahrungen mit der so genannten „modernen Gesellschaft“ gemacht. Die Überlebenstechniken, die in den Jahrhunderten der Unterdrückung entwickelt wurden, passten nicht in die neue Umwelt. Ängste und Sorgen sind geblieben: Die Angst vor Abschiebung und die Sorge, dass Kultur und Religion, die in der Heimat unter schwersten Bedingungen bewahrt werden konnten, jetzt untergehen. Prof. Wießner hat das Problem schon früh erkannt. 1984  prägte er die Formulierung vom „tötenden Licht einer fremden Welt“, in das die Yeziden nach ihrer Flucht in Westeuropa geraten würden. Gleichwohl sah er für sie keine dauerhafte Überlebensmöglichkeit in Ländern wie der Türkei oder Syrien.

 

Die Integration der Yeziden verläuft nicht immer reibungslos, sie ist aber gerade bei der zweiten Generation sehr weit fortgeschritten. Mittlerweile gibt es eine gute Zahl von Hochschulabsolventen und Personen in hoch qualifizierten Arbeitsbereichen. Yeziden fühlen sich als Bürger Deutschlands und als Mitglieder der deutschen Gesellschaft. Viele besitzen bereits die deutsche Staatsangehörigkeit. Sie wollen mit ihrer Arbeit auch zum Wohl des Landes beitragen. Ihre kulturelle Eigenheit sollte als eine Bereicherung und Chance für die deutsche Gesellschaft verstanden werden. Hochkulturen entwickeln sich immer dann, wenn unterschiedliche Kulturen und Religionsgemeinschaften friedlich und unter gegenseitiger Wertschätzung zusammen kommen. Seit Mitte der neunziger Jahre tragen vermehrt auch yezidische Vereine zum Erhalt der yezidischen Religion und Kultur einerseits sowie zur Integration in die deutsche Gesellschaft andererseits bei.

 

Die Yeziden haben begriffen, dass sie sich auch religiös organisieren müssen, um ihre Identität und ihre Religion bewahren zu können, denn Yezidentum ist weitaus mehr als nur die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft. Man ist sich einig, dass es eine neue Form geben muss, diese Religion zu vermitteln. Mittlerweile gibt es im gesamten Bundesgebiet yezidische Vereine mit unterschiedlichen Programmen und Aktivitäten.

 

Fast alle Vereine in der Bundesrepublik sind heute in der Lage, der yezidischen Bevölkerung vor Ort Räume zur Versammlung und zum Treffen zur Verfügung zu stellen. Zu den wichtigsten Aufgaben dieser Vereine gehört es, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene anzusprechen, sie in ihrer doppelten Identität zu stärken, aber auch, ihnen beratend zur Seite zu stehen. Ein zentrales Thema ist die religiöse Unterweisung, die vermittelt, was Yezidentum und die Tradition yezidischer Bräuche und Mythen alles beinhaltet. Yezidische Eltern sind in den meisten Fällen mit einer religionsspezifischen Erziehung überfordert.

Die weitere Arbeit einiger Vereine befasst sich mit der Herausgabe von Zeitschriften wie z.B. „Denge Ezidiyan“ (Oldenburg) oder Periodika wie „Roj“ (Hannover), „Lalish“ (Celle) und „Qendil“ (Jena) in deutscher, kurdischer und arabischer Sprache. Außerdem sind inzwischen zahlreiche informative Homepage-Adressen im Internet zu finden.

 

Bei aller Vorsicht, die angebracht ist, wenn jemand zwischen Flüchtlingsgruppen differenzieren will, lassen sich Fakten nennen, die – hinsichtlich der Integration der Yeziden – objektiv vorhanden sind und sich auswirken. Der wichtigste Punkt:  Das Herkunftsland  ist stets das Land der Verfolgung, auch wenn einige Ältere aus der Türkei die Dörfer ihrer Jugend noch einmal sehen wollen. Eine kulturelle Rückkoppelung  oder gar ein organisatorischer Rückgriff auf die Herkunftsländer (Stichwort Zwangsehe) entfällt.

 

Ein wesentliches Ziel der Yeziden ist die Einbürgerung, und dem Teil, der aus der Türkei stammt, ist dies auch in großen Umfang gelungen. Den Yeziden aus anderen Ländern, die oftmals jahrelang mit Duldungen existieren, ist dieser Weg rein rechtlich meist versperrt.

 

Gleichwohl werden auch sie ihr weiteres Leben in Deutschland verbringen, Abschiebungen sind derzeit kaum möglich. Insgesamt versuchen die Yeziden mit Erfolg, als Teil einer deutschen, pluralistischen Gesellschaft ihren festen Platz zu finden. Integrationsfördernd ist der Umstand, dass der Exodus aus der Türkei abgeschlossen ist: Praktisch alle Verwandten aus der Türkei sind ebenfalls in Deutschland. Inzwischen konnten größere Gemeinden entstehen, so  in Celle und Umgebung, in Hannover, Oldenburg, Bremen, Bielefeld und Emmerich. „Parallelgesellschaften“, die eine integrationsferne Eigendynamik entwickeln, entstehen jedoch nicht, was sicher mit dem Fehlen jeglicher Missionierung zu tun hat. 

 

Jahrhundertelange Verfolgung und Unterdrückung machten sowohl einen Existenzaufbau als auch politische und religiöse Selbstverwirklichung in der Herkunftsregion geradezu unmöglich. In Deutschland, einem demokratischen Rechtsstaat, sieht die yezidische Gemeinde endlich eine Chance, sich selbst zu verwirklichen.

 

Von Bedeutung für die Integration ist die Vorbildfunktion, die von den Yeziden ausgeht, die schon zu Zeiten der Gastarbeiter-Anwerbung nach 1960 als Arbeitsimmigranten nach Deutschland kamen  und  in ihrer gesellschaftlichen Lebensführung weit integriert sind. An ihren Lebenserfahrungen orientieren sich Yeziden mit kürzerem Aufenthalt in Deutschland. Verwandte und Bekannte stehen ihnen als direkte „Ansprechpartner“ zur Verfügung, was ihnen die Eingliederung in die deutsche Gesellschaft erleichtert. Insbesondere bei der yezidischen Jugend lässt sich dieser Nachahmungseffekt feststellen. Der Anspruch auf eine qualifizierte (Aus-)Bildung wächst zusehends, immer selbstverständlicher nimmt die Jugend Bildungsangebote wahr, und in steigendem Maße entschließen sich junge Yeziden zu einem Studium, wodurch sie wiederum eine Vorbildfunktion für weiter nachfolgende Generationen einnehmen.

 

Auf Grund der Jahrhunderte langen Verfolgung und Unterdrückung als Minderheit in ihren Herkunftsländern ist das yezidische Volk gewohnt, sich unauffällig zu verhalten und sich neuen Lebensumständen rasch anzupassen, was eine Integration fördert. Auch in der „neuen“ Heimat sind die Yeziden eine Minderheit unter den zahlenmäßig großen Gruppen der übrigen Migranten.

 

Aktuelle Fragen zum Yezidentum in Deutschland

 

Zum Schluss möchte ich auf drei Fragen eingehen, die in den Diskussionen über das Yezidentum und die Yeziden in Deutschland gestellt werden.

Gibt es Zwangsheiraten bei den Yeziden?

 

In der yezidischen Religion gibt es keine Inhalte, mit denen sich eine von den Eltern bestimmte Eheschließung rechtfertigen lässt. In der Zeremonie der Eheschließung soll vielmehr dreimal das Einverständnis der Partner abgefragt werden. Die Zwangsehe ist kein spezifisches Problem der Yeziden, sondern ein Problem der Herkunftsregion. Dort ist es Tradition, innerhalb der Familien-verbände zu heiraten, so wie es in früheren Zeiten und teilweise bis heute in bestimmten Schichten der europäischen Bevölkerung üblich war und ist. In Deutschland haben die Yeziden diese wenig hilfreiche Tradition weitgehend aufgegeben.

 

Der Zwang gegenüber den eigenen Kindern bildet einen Gegensatz zu den Grundsätzen, die gerade wir als Menschen schätzen, die oft selbst noch Unterdrückung erfahren haben. Gerade solch ein Zwang kann bei Jugendlichen dazu führen, dass sie sich von ihren Eltern und der yezidischen Gemeinde abwenden. Allerdings beschränkt sich die freie Partnerwahl auf die jeweils endogamen Kasten der Yeziden. An dieser religiösen Tradition halten überzeugte Yeziden freiwillig fest.

 

Wie ist die Stellung der Frau im Yezidentum?

 

Die Religion enthält keine Elemente, die eine Benachteiligung oder Diskriminierung der Frau rechtfertigen. Bei der älteren Generation besteht allerdings noch ein traditionelles patriarchalisches Rollenverständnis, das sie aus dem kulturellen Umfeld ihrer Herkunftsregionen mitgebracht haben. Die jüngere Generation unterscheidet sich im Hinblick auf die Geschlechterrollen nicht mehr von ihrem gesellschaftlichen Umfeld in Deutschland.

Yezidische Frauen in traditioneller Tracht

Ist die Blutrache eine yezidische Rechtsnorm?

 

Keinesfalls. Die oft Jahrhunderte währenden Fehden zwischen Familienverbänden, die jeweils eine Ehrverletzung bzw. einen vorangegangenen Mord der Gegenseite rächen, sind von Sizilien bis in den Fernen Osten verbreitet. In der yezidischen Religion ist weder die Blutrache verankert, noch enthält sie Vorstellungen, die mit den alttestamentarischen Vorstellungen von „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (s. u. a. 3. Moses 24, 20) vergleichbar wären. Auch unter den Yeziden in Deutschland sind bis in jüngste Zeit hinein Fälle von Blutrache vorgekommen. Die überwältigende Mehrheit der Yeziden verurteilt solche Taten. Die gelegentlich  in den Medien verbreitete Vorstellung, die Yeziden seien in Sippen oder Stämme mit straffer Organisation und einem „Clanchef“ mit Befehlsgewalt – quasi als archaische Gesellschaft – organisiert, hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Zwar gibt es Familienverbände, deren Zusammengehörigkeitsgefühl traditionell und nicht zuletzt auf Grund der Verfolgung in der Regel stark ausgeprägt ist. Die Entscheidungsprozesse in ihnen erfolgen jedoch auf demokratischem Wege. Den Älteren und Erfahrenen wird Respekt entgegengebracht, aber keine Unterwürfigkeit und kein blinder Gehorsam. Leicht ablesen lässt sich dies an durchaus uneinheitlichen politischen Präferenzen innerhalb eines Familienverbandes.

 

Dieser Aufsatz wurde von Telim Tolan verfasst. Er ist ein Auszug aus dem Buch: Das Yezidentum – Religion und Leben, Chaukeddin Issa, Oldenburg (Oldbg) 2007, Verlag Dengê Êzîdiyan, ISBN: 978-3-98107-514-4, 291 Seiten.

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